Wozu braucht ein Bauer oder eine Gärtnerin eigentlich Kunst?
Diese Frage hat mich – obwohl wir es uns von Anfang an auf die Fahnen geschrieben haben – immer wieder bewegt. Im Alltagsgeschäft, wo Zeit und Geld knapp sind, stellt sich diese Frage neu. Ist Kunst wirklich notwendig und wenn ja, wozu?
Wir wollen Menschen ausbilden, keine Maschinen programmieren. Dieses Mensch-Sein beinhaltet auch sensible, empfindende Seiten. Es beinhaltet, sich als Mensch angesprochen zu fühlen, selbst da zu sein und nicht nur Fachwissen anzuhäufen. Ein Stück Selbsterkenntnis und ein Stück empfindender Welterkenntnis spielen eine Rolle. Wenn ich an die Zukunft der Landwirtschaft denke, denke ich einerseits an Fachkompetenz und andererseits an ganz ortsbezogene und hofindividuelle Lösungen, denke an Gemeinschaften, wo das Miteinander und die Selbstentwicklung eine große Rolle spielen, denke an kreativ-schöpferische Lösungen für Fragen, die nicht nur aus der Erfahrung heraus gelöst, sondern „neu erfunden“, erfühlt oder empfangen werden müssen. Ich denke an Vertrauen in den Prozess und Kenntnis von Prozessen. Diese „andere Fachkompetenz“ kann Kunst nach meiner Beobachtung ausbilden. Eine ehemalige Auszubildende erzählte mir einmal, dass es die Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit ist, die für sie im Berufsalltag von Bedeutung ist.
Schauen wir auf das Praxisbeispiel des Zeichnens in der Ausbildung: Zeichnen schult das Auge und die Konzentration. Allerdings fühlen sich die Menschen oft erst angesprochen, wenn es unterschiedliche Möglichkeiten zu zeichnen gibt, neben dem klassischen Abbilden des Gegenstandes zum Beispiel eher bewegt, spielerisch, ungewohnt herantastend. Zudem geht der Schritt weg vom Richtigmachen und Bewerten, hin zum Erleben und Verbinden. Da werden oft unerwartete, einmalige und individuelle Erfahrungen gemacht. Das bereichert im Austausch die Gruppe – weil sich z. B. viele Aspekte einer Pflanze zeigen – und andererseits wird die Individualität Mensch angesprochen – jeder kann seinen Weg finden. Dieses Herangehen braucht, neben den kreativen und handwerklichen Anregungen, Zeit sich einzulassen und für den gegenseitigen Austausch, einen Blick auf das Objekt und aber auch einen weiteren auf den Schaffenden. Es entsteht eine tiefere Wahrnehmung der Welt und von sich selbst.
In weitergehenden Übungen kann sich eine ganze Gruppe bei der Entwicklung intuitiver Wahrnehmung unterstützen. Da manch einem das Zeichnen selbst fremd bleibt, erweitern wir die Wahrnehmungsübungen zum Beispiel durch Wort, Bild, Klang, Bewegung und Körper. Das Zeichnen und Beobachten, die Ruhe und (Selbst-)Klärung durch künstlerisch gestützte Wahrnehmungsübungen bildet ein meditativ-wahrnehmendes Handwerkszeug aus und schafft außerdem Besinnungsräume.
In den letzten Jahren hat sich das Schulen der Wahrnehmung als zentrales Thema herauskristallisiert. Neben Pflanzen, Bäumen, Knospen, Tieren oder Landschaften, haben wir auch Orte und Prozesse auf diese Weise wahrgenommen. Als wesentlich erlebten wir dabei die Wiederholung. Auch eine einmalige künstlerische Aktion kann prägen, aber durch die Beständigkeit entstehen tiefere Erlebnisse und es schult sich eine wachere Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeit.
Die weitere wichtige Richtung der Wahrnehmung ist der gestaltende, arbeitende und fühlende Mensch selbst. Dazu haben wir beispielsweise die vier Elemente und Temperamente erforscht und mit Ton geformt. Wir haben sogar Kunst- und Kulturgeschichte mit Farbe, Stift und Kohle nachempfunden. In der so erlebbar gewordenen Menschheitsentwicklung spiegelten sich auch biografische Wege und es zeigte sich, wie verschieden Menschen in der Welt stehen. Spätestens gegen Ende der Ausbildung war es dann an der Zeit, den eigenen Weg bewusster anzusehen. Dazu nutzten wir künstlerisch-assoziative Übungen oder auch eine individuelle, malerische Reise durch den Jahreslauf.
Die Erfahrung zeigt, dass durch die Kunst Tiefe und Feinheit entsteht, die das Biodynamische braucht. Dass nicht jeder einen Zugang dazu hat, gehört ebenfalls dazu, wenn wir individuell ausbilden wollen. Denn jeder Lehrling bringt seine ganz eigenen Fähigkeiten mit und manchmal zeigt sich der Wert einer Übung auch erst viel später. Ein ehemaliger Lehrling, welcher sich nur schwer auf die Kunst eingelassen hat und immer ein großer Kritiker ihrer Notwendigkeit war, hat mir Jahre nach der Ausbildung berichtet, wie sehr ihn doch gerade die Erfahrungen aus der Kunst getragen haben. Er erzählte, dank dieser Erfahrungen besser und sicherer zu wissen – zu empfinden – was zu tun sei, was das Richtige für die Situation sei.
Landwirtschaft erlebe ich so, dass sie uns im Tun mit der Erde verbindet. Kunst erlebe ich so, dass sie die menschliche Empfindung auf die Erde bringt. Beides zusammen macht „empfindendes Tun“ an, mit und für die Erde möglich, was ich als eine Basis für biodynamische Landwirtschaft und die Herausforderungen aus der Zukunft verstehe.
Tanja Franke ist Bildende Künstlerin aus Dresden und seit über 16 jahren für die Biodynamische Ausbildung im Osten engagiert: Anfangs in der Vorbereitungs- und Konzeptphase innerhalb der initiativkreistreffen, dann 12 jahre als Seminarleiterin gemeinsam mit Christoph Willer, jetzt mit künstlerisch-bildendem Angebot für die Lehrjahre.